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Im Gesicht des Beamten der Stadtverwaltung von Tarquinia hatte sich bei Theresas Ankunft eine leichte aber anhaltende Röte ausgebreitet. Antonio war noch ganz jung und bisher keine Besucherin gehabt, die mit Theresa vergleichbar gewesen wäre.
Mit ausgebreiteten Armen schleppte er ein Buch herbei, das beinahe seinen gesamten Oberkörper verdeckte. In den Einband aus Kalbsleder war die Jahreszahl 1973 geprägt. Antonio ließ sich in respektvollem Abstand zu Theresa am Tisch nieder und schlug das Geburtsverzeichnis auf. Sie schluckte ihre Ungeduld herunter. Sie hätte lieber selbst darin geblättert, wollte aber nicht unhöflich sein. So weit weg von Rom haftete den Leuten noch die Anständigkeit der Fünfziger Jahre an.
„Da haben wir es“, sagte Antonio in gebrochenem Englisch und schob das Buch zu ihr herüber. Er wollte die einzige Gelegenheit in seinem Leben, Englisch zu sprechen, nicht verstreichen lassen.
Unter der laufenden Nummer 137 war der Name Fabia Valeria Terni verzeichnet. Geboren am 18. Juni.
Luca und Valentina hatten bisher am Nebentisch Dokumente studiert und kamen nun zu Theresa und Antonio herüber.
„Was bedeutet das Kreuz hinter dem Datum?“, fragte Theresa.
„Sie wurde am Tag der Geburt getauft.“
„Katholisch?“
Antonio lächelte. „Bestimmt.“
Anscheinend war es üblich, dass die Taufe gleich nach der Geburt stattfand, denn nur bei zwei Namen auf der Seite gab es ein Taufdatum, das einige Tage hinter der Geburt lag. Wahrscheinlich war der Priester bei diesen Geburten krank gewesen. Die Eltern von Fabia trugen die Vornamen Valeria und Fabio.
„Seht mal“, sagte Theresa. „Die Adresse.“
Dieselbe Adresse tauchte auch in den Unterlagen des italienischen Außenministeriums auf. Fabia besaß zwar eine Wohnung in der Innenstadt von Rom, aber dort hatte die Polizei nichts gefunden, was auf Stockholm hinwies.
„Vielleicht wohnen die Eltern ja noch dort.“
„Das liegt etwas östlich der Stadt“, sagte Antonio. „Hinter der Via Ripagretta.“
Wie das schonische Hinterland, dachte Theresa. Hügelige Felder mit langem Gras. Auf den Höhenkämmen reihten sich Pinien. Der Schotterweg zog sich ewig dahin. Dann tauchte das verschachtelte Steinhaus unerwartet hinter einer Biegung auf. Es besaß zwei Stockwerke und ein flaches Giebeldach mit verwitterten Ziegeln. Vor dem Eingang stand ein schwarzer Mercedes.
Luca bog vom Weg in die Einfahrt ein und legte die letzten Meter mit unerträglicher Langsamkeit zurück. Theresa stieg als erste aus dem Wagen und blieb irritiert stehen, als sie das Nummernschild auf der Limousine sah. Der Wagen gehörte zum schwedischen diplomatischen Korps. Ein Mann mit blondem Haar trat um die Ecke des Hauses und kam ohne Zögern auf Theresa zu. Aus den Augenwinkeln bemerkte sie, wie Luca und Valentina hinter den geöffneten Türen des Wagens stehenblieben. Erst jetzt verwandelte sich Theresas Neugier in Vorsicht.
„Maurits Håkonsson“, stellte sich der Mann noch im Gehen vor und streckte Theresa die Hand entgegen. Er überragte sie um zwei Köpfe. Ihrem Gefolge schenkte er ein freundliches Nicken.
„Bleiben Sie stehen!“, rief Luca.
Theresa vernahm schnelle Schritte über den Kies. Luca sah mit seinen schwarzen Augen und den Narben auf den Wangen ohnehin bedrohlich aus. Jetzt trug er auch noch eine Sonnenbrille und hielt seine Pistole in der Hand. Das diplomatische Nummerschild und der schwedisch aussehende Mann hatten Theresa die Situation ganz anders einschätzen lassen.
„Die Carabinieri“, sagte Luca und präsentierte mit der Linken seinen Ausweis.
Maurits verstand, dass auch er sich ausweisen musste und öffnete das Revers seines Anzugs, um einen Pass und ein mehrfach gefaltetes Schriftstück hervorzuziehen. Luca würdigte den Pass nur eines kurzen Blicks, faltete dann das Papier auf und überflog den Inhalt. Am Ende nickte er knapp und gab Maurits die beiden Dokumente zurück.
„Bist du die Rendezvous-Polizistin von der Reichskrim?“
Theresa nickte. „Was tust du hier?“
„Ich soll ein Dokument überbringen. An die Familie. Der Staatschef schickt mich.“
„Der Staatsminister schickt dich?“
„Nun ja, dem Grundgesetz nach ist Carl XVI Gustav unser Staatschef, der Staatsminister nur der Chef der Regierung.“
„Bin ich dumm!“
„Ich fürchte, hier ist niemand. Hinter dem Haus war ich auch schon.“
Luca und Valentina gingen an der Fassade entlang und spähten durch die Fenster.
Theresa gab die Hoffnung noch nicht auf. Nur weil ein Haus leblos wirkte, bedeutete es in Italien nicht, dass es kein Leben gab. Sie hatte sich Italien immer lebendig vorgestellt, seit ihrer Ankunft aber hatte sie nichts anderes als verriegelte Fensterläden und leere Straßen gesehen. Abends öffneten sich die Läden, und durch die Fenster flimmerte Fernsehlicht.
Dabei sah das Gebäude nicht wirklich aufgegeben aus. Der Garten war auf einheimische Weise verwildert. Man konnte kaum sagen, seit wann niemand mehr hier gewesen war. Es konnten Minuten oder Jahre sein.
„Ich glaube nicht, dass bald jemand kommt“, vermutete Theresa nach einer Panoramapirouette. „Wenn sie nur beim Einkaufen wären, müsste man doch irgendwelche Spuren von Alltag sehen.“
„Ich kann jedenfalls nicht warten. Ich muss noch zur Familie des Botschafters.“
„Was ist in dem Umschlag?“
„Das weiß ich natürlich nicht, aber wahrscheinlich ein Kondolenzschreiben.“
„Ob die Familie darauf Wert legt?“
„Seine Majestät ist ein Meister der Kondolenz. Und es geht auch um Geld.“
„Glaubst du, ich könnte ebenfalls zur Maeros Familie fahren?“
„Das solltest du lieber mit deinem Chef besprechen. Aber ich schreibe dir gern die Adresse auf. Es liegt am Lago di Bracciano, zwischen Vigna Grande und Vicarello.“ Maurits zückte eine Visitenkarte aus seiner Jackentasche und schrieb die Anschrift auf die Rückseite. „Also dann, viel Erfolg!“
Er setze sich in den Wagen und fuhr davon. Luca kehrte von seiner Runde ums Haus zurück.
„Vielleicht sind sie in die Ferien gefahren. Dem Register nach wohnen sie immer noch hier.“
Theresa hatte eine Idee. „Kann man irgendwie an ein Bild von Fabia und ihren Eltern kommen?“
Luca griff in seine Jackentasche und holte ein Päckchen Zigaretten heraus. Er rauchte erst die halbe Zigarette und musterte Theresa dabei. „Du bist nicht dumm.“